"Fantasie ist eine wunderbare Eigenschaft, aber man muss sie im Zaum halten." Erich Kästner (1899-1974)
Alle Märchen und Geschichten sind gelesen und erzählt von Märchenerzähler Kai-Uwe Richter
Zwei Königssöhne gingen einmal auf Abenteuer und gerieten in ein wildes, wüstes Leben, so dass sie gar nicht wieder nach Haus kamen. Der jüngste, welcher der Dummling hieß, machte sich auf und suchte seine Brüder: aber wie er sie endlich fand, verspotteten sie ihn, dass er mit seiner Einfalt sich durch die Welt schlagen wollte, und sie zwei könnten nicht durchkommen, und wären doch viel klüger.
Sie zogen alle drei miteinander fort und kamen an einen Ameisenhaufen. Die zwei ältesten wollten ihn aufwühlen und sehen, wie die kleinen Ameisen in der Angst herumkröchen und ihre Eier forttrügen, aber der Dummling sagte „lasst die Tiere in Frieden, ich leids nicht, dass ihr sie stört.“
Da gingen sie weiter und kamen an einen See, auf dem schwammen viele viele Enten. Die zwei Brüder wollten ein paar fangen und braten, aber der Dummling ließ es nicht zu und sprach „laßt die Tiere in Frieden, ich leids nicht, dass ihr sie tötet.“
Endlich kamen sie an ein Bienennest, darin war so viel Honig, dass er am Stamm herunterlief. Die zwei wollten Feuer unter den Baum legen und die Bienen ersticken, damit sie den Honig wegnehmen könnten.
Der Dummling hielt sie aber wieder ab und sprach „laßt die Tiere in Frieden, ich leids nicht, dass ihr sie verbrennt.“ Endlich kamen die drei Brüder in ein Schloß, wo in den Ställen lauter steinerne Pferde standen, auch war kein Mensch zu sehen, und sie gingen durch alle Säle, bis sie vor eine Tür ganz am Ende kamen, davor hingen drei Schlösser; es war aber mitten in der Türe ein Lädlein, dadurch konnte man in die Stube sehen.
Da sahen sie ein graues Männchen, das an einem Tisch saß. Sie riefen es an, einmal, zweimal, aber es hörte nicht: endlich riefen sie zum dritten mal, da stand es auf, öffnete die Schlösser und kam heraus. Es sprach aber kein Wort, sondern führte sie zu einem reich besetzten Tisch; und als sie gegessen und getrunken hatten, brachte es einen jeglichen in sein eigenes Schlafgemach.
Am andern Morgen kam das graue Männchen zu dem ältesten, winkte und leitete ihn zu einer steinernen Tafel, darauf standen drei Aufgaben geschrieben, wodurch das Schloß erlöst werden könnte. Die erste war, in dem Wald unter dem Moos lagen die Perlen der Königstochter, tausend an der Zahl, die mussten aufgesucht werden, und wenn vor Sonnenuntergang noch eine einzige fehlte, so ward der, welcher gesucht hatte, zu Stein. Der älteste ging hin und suchte den ganzen Tag, als aber der Tag zu Ende war, hatte er erst hundert gefunden; es geschah, wie auf der Tafel stand, er ward in Stein verwandelt. Am folgenden Tag unternahm der zweite Bruder das Abenteuer; es ging ihm aber nicht viel besser als dem ältesten, er fand nicht mehr als zweihundert Perlen und ward zu Stein.
Endlich kam auch an den Dummling die Reihe, der suchte im Moos, es war aber so schwer, die Perlen zu finden, und ging so langsam. Da setzte er sich auf einen Stein und weinte.
Und wie er so saß, kam der Ameisenkönig, dem er einmal das Leben erhalten hatte, mit fünftausend Ameisen, und es währte gar nicht lange, so hatten die kleinen Tiere die Perlen miteinander gefunden und auf einen Haufen getragen. Die zweite Aufgabe aber war, den Schlüssel zu der Schlafkammer der Königstochter aus der See zu holen. Wie der Dummling zur See kam, schwammen die Enten, die er einmal gerettet hatte, heran, tauchten unter und holten den Schlüssel aus der Tiefe.
Die dritte Aufgabe aber war die schwerste, aus den drei schlafenden Töchtern des Königs sollte die jüngste und die liebste herausgesucht werden. Sie glichen sich aber vollkommen, und waren durch nichts verschieden, als dass sie, bevor sie eingeschlafen waren, verschiedene Süßigkeiten gegessen hatten, die älteste ein Stück Zucker, die zweite ein wenig Sirup, die jüngste einen Löffel voll Honig.
Da kam die Bienenkönigin von den Bienen, die der Dummling vor dem Feuer geschützt hatte, und versuchte den Mund von allen dreien, zuletzt blieb sie auf dem Mund sitzen, der Honig gegessen hatte, und so erkannte der Königssohn die rechte. Da war der Zauber vorbei, alles war aus dem Schlaf erlöst, und wer von Stein war, erhielt seine menschliche Gestalt wieder. Und der Dummling vermählte sich mit der jüngsten und liebsten, und ward König nach ihres Vaters Tod; seine zwei Brüder aber erhielten die beiden andern Schwestern.
Es war einmal ein kleiner Funke, der tief im Herzen eines alten Vulkans lebte. Alle anderen Flammen lachten über ihn, denn er war so klein, dass er
kaum eine Glut in der Dunkelheit hinterließ.
„Du wirst niemals leuchten wie wir“, spotteten die großen Flammen, die in prächtigen Feuerschwaden tanzten.
Doch der kleine Funke hatte einen Traum: Er wollte eines Tages ein Lagerfeuer werden, um Wärme und Licht zu schenken – nicht um zu zerstören wie die anderen Feuer, sondern um Hoffnung zu geben.
Eines Tages bebte die Erde, und ein Windstoß trug den kleinen Funken hinaus aus dem Vulkan, weit hinunter ins Tal. Dort landete er – schwach glühend – im Wald, neben einem Wanderer, der sich verirrt hatte.
Der Wanderer zitterte vor Kälte, denn es war Nacht, und der Wind wehte eisig durch die Bäume. Als er den kleinen Funken bemerkte, schützte er ihn mit den Händen und sagte:
„Du bist klein, aber vielleicht bist du genau das, was ich jetzt brauche.“
Er sammelte etwas trockenes Holz und pustete ganz sanft. Der Funke glomm auf, ein kleines Flämmchen entstand – und bald flackerte ein warmes Lagerfeuer.
Der Wanderer überlebte die Nacht und fand am nächsten Morgen dank der Wärme und des Lichts den Weg zurück ins Dorf. Dort erzählte er von dem kleinen Funken, der ihn gerettet hatte.
Seitdem sagt man in jenem Tal:
„Unterschätze nie das kleinste Licht – manchmal ist es genau das, was man in der Dunkelheit braucht.“
💡 Lektion der Geschichte:
Selbst das Kleinste, Unsichtbarste oder Unscheinbarste kann in der richtigen Situation Großes bewirken. Jeder hat seinen Wert – auch wenn er nicht sofort gesehen wird.
Von Richard Richter